Bereits die Kindheit van Goghs ist geprägt von einem innigen Verhältnis zur Natur – sein Vater war Angehöriger der Groninger Schule, einer gemäßigten Richtung des Protestantismus, die eine undogmatische und individualistische Auslegung des Glaubens vertritt und Gottes Schöpfung der Natur großen Respekt entgegenbringt. Sein ganzes Leben unternimmt van Gogh lange Spaziergänge durch die Natur. Sein Bruder Theo sieht in der von der Kindheit andauernden großen Liebe zur Natur die Basis für van Goghs Kunstverständnis. Bezeichnende Zitate des Künstlers untermauern dies:
Wenn man die Natur wahrhaft liebt, so findet man sie überall schön.“
„Denn die Maler begreifen die Natur und lehren uns sie sehen.“
Mit seiner endgültigen Abwendung vom Leben in der Großstadt und seiner Bewunderung für die Natur und das einfache Leben der Landbevölkerung erweist sich Vincent van Gogh als Kind seiner Zeit. Er folgt damit aber nicht nur einer allgemeinen Strömung, die im 19. Jahrhundert immer mehr Menschen erfasst, sondern auch ganz unmittelbar seinem großen Vorbild Jean-François Millet. Millet inspirierte nicht nur van Goghs Kunst, sondern auch seine Ansichten in vielen Lebensbereichen. Das Musée d’Orsay in Paris widmete dieser besonderen Beziehung, die van Gogh zu seinem Idol entwickelte, im Herbst und Winter 1998/99 eine eigene Ausstellung. Millet erschuf auch das Motiv des „Sämanns“, das bei ihm zwar unvollendet blieb, jedoch von Vincent van Gogh aufgegriffen und zu einem seiner berühmtesten Werke wurde.
In Abstimmung mit dem Fassadenkünstler Miel Krutzmann wurde van Goghs Werk „Der Sämann“ für die Interpretation auf einer Fassade der Schule am Steeler Tor ausgewählt. Die Schule wird anlässlich der Fassadengestaltung ebenfalls inhaltlich anknüpfende Kunstprojekte mit Schülerinnen und Schülern durchführen.
Jean-François Millet, Mitbegründer der Schule von Barbizon, ist ein herausragendes Beispiel für einen Pariser Maler, welcher der Großstadt Mitte des 19. Jahrhunderts den Rücken kehrt und sich nicht nur dem einfacheren Leben auf dem Land zuwendet, sondern ein intensives und gefühlsbetontes Verhältnis zur Natur entwickelt. Seine Gemälde sind von einem intimen und anthropomorphisierenden Blick auf seine Umwelt geprägt.
Von Millet selbst gibt es mehrere Äußerungen, die den Schluss erlauben, dass er in der Natur immer wieder menschenähnliche Züge entdeckt. Die Landschaften, die sich in Millets Gesamtwerk finden, meist als Hintergrund für die bäuerlichen Szenen, später teilweise auch als eigenständige Motive, sind keine spektakulären, Beifall heischenden Naturdarstellungen, sondern einfache Gegenden. Ziel ist es nicht, den Betrachter weit fort von der eigenen Gegenwart zu führen. Schon bei seinen Bauern zeigt sich Millets Vorliebe für das Raue und Ursprüngliche, das ihm authentischer und passender erschien als das Hübsche. Dieser Hang zum Unauffälligen und Gewöhnlichen spiegelt sich auch in den Briefpassagen Millets wider, in denen er Erlebnisse in der Natur schildert, die ihm besonders gefallen. Auch hier sind es die kleinen, unauffälligen Gewächse, die bei Millet den stärksten Eindruck hinterlassen.
Er spricht von den Waldpflanzen wie von lebendigen und vor allem fühlenden Wesen. „Ces pauvres choses humiliées“ („Diese armen gedemütigten Dinge“) ist keine Phrase, es ist ein bewegter und bemitleidender Ausruf. Dieser ist in dieser Form nur möglich, wenn Millet der Natur – bewusst oder unbewusst sei dahingestellt – die Fähigkeit, Demütigung zu empfinden, und somit eine der des Menschen sehr ähnliche Gefühlswelt zuspricht. Diese Empathie für die Pflanzenwelt ist keine spontane Regung, sondern ein Charakterzug, der stets Millets Denken und Handeln bestimmt. Millet hegt ein inniges Verhältnis und eine große emotionale Nähe zur ihn umgebenden Natur – leidet er doch offensichtlich darunter, wenn die Blumen, Bäume und sonstigen Gewächse um ihn herum nicht unangetastet bleiben. Diese Verbindung der eigenen Gefühle mit Ereignissen in der Natur und den ihr zugeschriebenen Empfindungen kann mit dem Kanon des Phänomens der Einfühlung in Einklang gebracht werden. Millets Bedauern der Verletzung der Pflanze scheint die Spiegelung des Leids der Pflanze zu sein, doch dass Millet die Pflanze fühlen und leiden sieht, ist nur möglich, weil er selbst den Angriff auf die Natur als negativ empfindet. Millets Verhältnis zur Natur ist geprägt von Respekt für alles Leben darin und einer engen Verbindung der Gefühlswelt des Malers mit der Landschaft.
In Abstimmung mit dem Fassadenkünstler Telmo Pieper wurde Millets Werk „Frau mit Rechen“ ausgewählt, dessen Original im Metropolitan Museum of Art in New York ausgestellt ist.
Das Bild zeigt eine Frau, die mit einem Rechen mühsam übrig gebliebenes Stroh o. ä. zusammenzieht, um es aufzusammeln. Telmo Pieper nimmt in seinem Entwurf Bezug zur mühsamen Arbeit in der Natur und transferiert sie in die Gegenwart/Zukunft. Die mühsame Aufgabe liegt nun darin, den Müll bzw. die Verschmutzung zu beseitigen, die wir Menschen in der Natur hinterlassen. Telmo Pieper weist durch die Darstellung der Protagonistin klar daraufhin, dass es insbesondere die junge Generation ist, die sich dieser Aufgabe stellt. Wie bei Millet ist das Werk nicht mit erhobenem Zeigefinger zu verstehen, sondern als Wertschätzung und Respekt für die handelnde Person, die im Einklang mit und zum Wohle der Natur agiert. Auch in seiner Interpretation gibt es kein großartiges Naturphänomen o.ä. im Hintergrund, sondern eine einfache Landschaft. Dies soll unterstreichen, dass die Natur überall schützenswert ist.
Projektpartner:
- TELMO MIEL
- Georg Barringhaus
- Jan Schoch
- Schule am Steeler Tor